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Ich liebe Deinen Klon

von Matthias Franz

 

  Als Anna mit mir Schluß machte, brach für mich eine Welt zusammen. Ich hatte sie geliebt – trotz all ihrer Macken und Marotten. Ja, ich hatte sogar fest daran geglaubt, daß sie die einzig richtige war, daß sie diejenige war, nach der ich mich ein Leben lang gesehnt hatte. Sie war für mich einfach perfekt gewesen, eine Traumfrau. Sie sah gut aus und hatte auch sonst alles, was eine Frau brauchte, um für mich eine Traumfrau zu sein: Sie war lieb, verständnisvoll, treu, romantisch, einfühlsam und konnte sehr gut Gedichte schreiben. Oh ja, das konnte sie sehr gut. Sie lag genau auf meiner Wellenlänge – glaubte ich zumindest lange, sehr lange Zeit. In Gedanken stand ich schon mit ihr vor dem Traualtar, denn für mich war klar, daß es nie wieder eine andere geben würde. Und dann dies. Aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht ganz nachvollziehen konnte – wie ich überhaupt Entscheidungen von Frauen nur sehr schwer nachvollziehen kann – machte sie mit mir Schluß. Mehr noch: Sie zog ihr ursprüngliches Angebot, mit mir eine Freundschaft einzugehen, zurück und brach den Kontakt in einem bitterbösen Abschiedsbrief mit mir ab. Sie hatte sogar geschrieben, sie würde mich hassen.

Ich war danach wie am Boden zerstört, versteckte mich in jeder freien Minute in meinem Zimmer. Auch Professor Eisenthal, bei dem ich vor zwei Monaten eine Assistentenstelle im Labor angetreten hatte, bemerkte meine Veränderung. Als Wissenschaftler stand er über den Dingen. Für ihn war Liebe etwas biologisches. Es brauchten nur ein paar Hormone verrückt zu spielen, und schon war es passiert – unvorhersehbar, unerwartet konnte es einen treffen, und das mehrmals im Leben. Die richtige Frau – so etwas gab es einfach nicht. Und dann erklärte er mir die biologischen Prozesse, die bei der Liebe eine Rolle spielten. "Wenn eine Frau einem Mann besonders gefällt", so sagte er, "sei es, daß sie besonders gut aussieht, das heißt besonders gut in das Idealbild hineinpaßt oder eine besonders gute Ausstrahlung hat, dann will er mit ihr schlafen. Das ist die natürliche Sache der Welt. Umgekehrt ist es genauso, doch bei Frauen ist die Hemmschwelle größer. Schließlich wollen sie nicht als Flittchen bezeichnet werden. Liebe beruht allein auf Hormonen und sexueller Anziehung. Der Rest ist reine Einbildung."

Das war erst der Anfang seiner Ausführungen. Ich hörte zu und bedauerte den armen Mann. Der Junggeselle konnte sich nicht über sein Sexualleben beklagen. Dennoch hatte er seit Jahren keine feste Beziehung mehr gehabt.

Daß ich Anna vermißte, daß ich ständig an sie denken mußte, führte bei mir zu Konzentrationsschwierigkeiten, die sich vor allem auf die Arbeit im Labor auswirkten. So beobachtete mich Professor Eisenthal mit immer größer werdender Skepsis. Auch in Vorlesungen, Seminaren und praktischen Übungen bekam ich kaum noch etwas mit. Ich schrieb in Stichpunkten alles auf, was der Professor und die Seminarteilnehmer sagten, damit nichts verloren ging, aber in Gedanken war ich bei Anna, fragte mich, was sie jetzt wohl gerade tun würde und was wir tun würden, wenn wir noch zusammen wären: Träumen, uns den romantischen Augenblicken hingeben, miteinander reden oder rumknutschen. Ich vermißte sie, ihren warmen Körper, ihre Stimme, ihre grünen Augen, einfach alles, und ich konnte es nicht länger ertragen, ohne sie zu leben. Auf Partys wollte bei mir nie richtig Stimmung aufkommen, andere Frauen interessierten mich nicht. Ich wollte auch keine andere Frau. Ich wollte Anna und nur Anna. So lebte ich drei Wochen lang vor mich hin – ein Leben, das zur Qual wurde. Ich zweifelte schon an mir selbst, fragte mich oft, ob ich wirklich dieses Arschloch war, als das mich Anna zuletzt bezeichnet hatte.

So entschloß ich mich eines Tages, mein Zimmer aufzuräumen, um die letzten Spuren von Anna und die letzten Erinnerungen an sie zu beseitigen. Die Rose, die sie mir geschenkt hatte, inzwischen verblüht wie unsere Liebe, eine angefangene Flasche Sekt, dazu zwei Gläser, die gespült werden mußten – ebenso das Geschirr, von dem sie gegessen hatte, als sie das letzte Mal bei mir gewesen war. Während ich einen vom süßen Sekt verklebten Untersetzer aufhob, um ihn in die Küche zu stellen, entdeckte ich, daß ein Haar daran klebte. Blond und sehr lang. Anna! Sie hatte Spuren in meiner Wohnung hinterlassen. Ein Haar, ein Teil von ihr. Ich wollte es gerade zusammen mit den anderen Dingen entsorgen, als mir plötzlich ein Gedanke kam: Wenn ich Glück hatte, mußte an diesem Haar noch die Haarwurzel hängen, vielleicht auch ein Stück Kopfhaut. Ich bräuchte dann nur eine Zelle mit intakter DNA. In der DNA ist die Erbinformation eines kompletten Menschen gespeichert, nicht nur die einer Zelle. Ich könnte mir Anna klonen, sofern dies möglich wäre. Aber ich arbeitete ja bei Professor Eisenthal, einem der führenden Genetiker in ganz Deutschland, und wenn es möglich wäre, einen Menschen zu klonen, müßte er es wissen. Ich wurde immer besessener von dem Gedanken. Warum sollte es nicht funktionieren? In Thailand war man dabei, einen weißen Elefanten, der vor über hundert Jahren gelebt hatte, zu klonen. Warum sollte man nicht auch einen Menschen klonen können? Dann könnte ich wieder ihren warmen, zierlichen Körper neben mir spüren, wenn ich morgens erwachte. Ich wollte sie klonen, koste es, was es wolle. Sofern es nur technisch möglich war, wollte ich sie haben, so wie sie gewesen war, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte.

Ich rief sofort im Labor an. Aber es nahm niemand ab. Stattdessen nur dieser dämliche Anrufbeantworter! Ich hasse Anrufbeantworter! Aber zum Glück hatte ich die Handy-Nummer des Professors für ganz dringende Fälle. Ich rief ihn an, und er nahm auch sofort ab.

"Hallo, Herr Professor Eisenthal. Hier ist Gindner!"

"Tut mir leid, Herr Gindner. Ich bin gerade in einer wichtigen Besprechung. Kann ich Sie zurückrufen?"

"Ist gut. Aber bitte rufen Sie mich noch heute zurück."

"Versprochen!"

Er legte auf, und ich fing wieder an zu träumen. Anna. Sie saß auf dem Balkon. Ihre langen, blonden Haare wehten im Wind. Wir frühstückten gerade mit ihrer Mutter zusammen. Die Vögel zwitscherten an einem wunderbaren Maimorgen. Bald würde ich sie wieder erleben. Anna, ich könnte sie bald wieder in meine Arme nehmen. Ja, ich würde es tun, ich mußte es tun. Ich würde sie klonen, und dann...

Mir fielen hundert Dinge ein, die ich zusammen mit ihr hatte unternehmen wollen, als wir noch zusammen waren. Ich erinnerte mich, wie schön es war, mit ihr am Neckar entlangzuspazieren und dann auf das alte Schloß hinaufzugehen. Ich träumte und schwärmte von ihr, und zum ersten Mal, seitdem sie mit mir Schluß gemacht hatte, war ich wieder guter Dinge. Wenn deine Frau dich verläßt, klone sie einfach! Die Probleme aller Männer werden bald gelöst sein!

Derlei abstruse Gedanken spukten in meinem Kopf herum. Doch Professor Eisenthal rief mich an und holte mich ganz schnell auf den Boden der Tatsachen zurück.

"Hallo, Herr Gindner", sagte er. "Weswegen wollten Sie mich anrufen?"

"Ist es möglich, einen Menschen zu klonen?"

Pause. Dann: "Wie kommen Sie auf die Idee? Zu viel Science-Fiction gelesen?"

"Ich fragte nur: Ist es theoretisch beim heutigen Stand der Forschung und der Technik möglich, einen Menschen zu klonen?"

"Worauf wollen Sie hinaus?"

"Angenommen, ich hätte hier ein Haar von jemandem mit Haarwurzel, und angenommen, daran befände sich ein Stück Kopfhaut mit intakter DNA..."

"Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie Ihre Ex-Freundin klonen wollen?"

"Wie kommen Sie darauf, Herr Professor?"

Doch Professor Eisenthal schien mich zu ignorieren und fuhr fort: "Sie haben wirklich zuviel Science-Fiction gelesen. Erstens ist das Klonen von Menschen illegal, zweitens ist Dolly auch nicht als erwachsenes Schaf geboren worden, das heißt, angenommen, Sie wollten tatsächlich Ihre Ex-Freundin klonen – wovon ich Ihnen dringend abraten würde -: Sie müßten 20 Jahre warten, bis Sie Ihre Ex wieder so wiedersehen könnten, wie Sie sie heute kennen. Oder glauben Sie, daß in der DNA auch die Information für das Alter enthalten ist? Und selbst wenn Sie den Körper dem richtigen Alter anpassen können, wie sieht es mit dem Geist aus? Sie wird geistig ein Kind sein, ein kleines Baby, das Sie erziehen müssen. Und es wird nicht die Frau sein, in die Sie sich verliebt haben. Sie wird zwar den selben Körper haben, aber sie wird nicht die selbe sein. Es ist genau wie bei Zwillingen. Die haben auch exakt die gleiche DNA. Also vergessen Sie es! Ich werde Sie bei einem solchen unwissenschaftlichen Projekt, das von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist, nicht unterstützen!"

Ich legte auf. Alle meine Träume, Anna zurückzubekommen, verschwanden in weiter Ferne, zerbrachen wie eine Porzellanvase, die auf den Boden der Tatsachen fiel. Als Biologiestudent hatte ich mich doch zu sehr von meinen Wunschvorstellungen und von Science-Fiction leiten lassen. Ich hätte wissen müssen, daß so etwas nicht möglich war. Oder vielleicht doch? Hatte mein Professor vielleicht Mist erzählt, weil er nicht die Verantwortung übernehmen wollte, falls der Versuch schiefging?

Die nächsten Tage verbrachte ich in der Bibliothek, um in akribischer Arbeit nach Büchern und Aufsätzen zu suchen, die den Professor vielleicht widerlegten. Ich fand dann schließlich einen brandneuen, gerade mal einen Monat alten Aufsatz im Internet. Der Aufsatz war in englischer Sprache und beinhaltete genau das, was ich suchte: Das Fast Kloning, das Klonen Erwachsener. Ich will dem Leser Einzelheiten über diesen höchst komplizierten Vorgang ersparen. Aber was ich in diesem Text las, versetzte mich in Erstaunen: Es handelte sich um geheime Experimente, die bereits vor drei Jahren durchgeführt worden waren. Man hatte versucht, erwachsene Schafe zu klonen. Der Prozeß vom Embryo zum biologisch erwachsenen Schaf hatte in diesen Fällen nur wenige Wochen gedauert. Waren die Schafe biologisch erwachsen, wurde der Alterungsprozeß bei diesem Verfahren automatisch gestoppt. Leider hatten die Schafe sich danach wie Lämmer verhalten, das heißt, sie waren biologisch erwachsen, aber geistig noch Kinder, die alles, auch ihre Sexualität, mit größter Neugier erforschten und denen das Spielen und Sachen-Anstellen das wichtigste in ihrem Leben zu sein schien. Diese Schafe, so stand weiter im Artikel, waren durch die Differenz zwischen dem biologischen und dem geistigen Alter überhaupt nicht lebensfähig. Lernen und Erfahrungen sammeln gehören bei Säugetieren zum Heranwachsen einfach dazu. Tja, wenn ich diesen Passagen des Artikels damals mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, hätte ich mir viel Ärger ersparen können. Aber hinterher ist man ja immer schlauer.

Danach interessierte ich mich vor allem für die technischen Einzelheiten. Die Computer bzw. die Software, die man dazu brauchte, und schließlich, was das schwierigste war, das Becken mit der Nährflüssigkeit, denn durch das Fast Kloning war es möglich, Säugetiere auch außerhalb des Mutterleibs – und sogar ganz ohne Mutterleib – großzuziehen. Alles, was man brauchte, war eine Eizelle, der man durch einen schwierigen Prozeß die DNA entnahm und stattdessen die DNA aus der Zelle des zu klonenden Säugetieres einsetzte. Die Nährflüssigkeit, eine komplizierte chemische Mischung, deren Zusammensetzung aber im Aufsatz genauestens beschrieben war, sollte nicht nur die Zustände im Mutterleib simulieren, sondern außerdem noch wachstumsbeschleunigend auf die Zelle wirken. Im Klartext: Somit war es möglich, eine unbefruchtete Eizelle innerhalb weniger Tage zu einem erwachsenen Menschen zu formen.

In den nächsten Tagen entstand in meinem Badezimmer eine Art Labor. Ich war so besessen von meiner Idee, daß ich Tag und Nacht daran arbeitete. Ich versuchte, meinen stinknormalen Pentium-Computer so umzurüsten, daß die Softwareprogramme, die ich für mein Projekt brauchte, darauf liefen, ich arbeitete mich in die Überwachungstechnik ein, baute mir einige der Lebenserhaltungssysteme selber. Den Rest konnte mir Manuela organisieren, eine andere Ex-Freundin, die als Krankenschwester in einem Krankenhaus arbeitete. Mit viel Überredungskunst hatte sie es fertiggebracht, dem Krankenhaus ausrangierte Maschinen abzuschwätzen und mir zu übergeben. Ich besorgte mir in diversen Apotheken und Drogerien die Zutaten für den chemischen Cocktail, der die Wunderflüssigkeit bilden sollte, mit der ich dann die Badewanne füllte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war mein Badezimmer für seine eigentlichen Zwecke nicht mehr zu gebrauchen, und ich mußte, wenn ich mich mal waschen mußte, ins städtische Schwimmbad ausweichen. Dafür schwamm ich dann dort auch meine Runden, um mich zwischen der anstrengenden Arbeit in meinem Badezimmer-Labor hin und wieder zu entspannen.

Nach zwei Wochen harter Arbeit war es dann endlich so weit: Das Labor war komplett eingerichtet, und das Experiment konnte beginnen: Was ich als nächstes brauchte, war eine unbefruchtete Eizelle. Manuela stellte sich auch dafür zur Verfügung und erklärte mir, sie werde bald ihre Tage haben. Dann könnte ich ihre Eizelle haben. Sie wüßte, wie man sie zu wissenschaftlichen Untersuchungen auffangen könnte.

Wenige Tage später lieferte sie mir ein Kästchen, in dem sich eine Flüssigkeit befand. "Hier ist sie drin", sagte sie.

Ich sah mir das Kästchen an. Mit bloßem Auge war die Eizelle nicht zu erkennen. Wie sollte ich da die DNA entfernen und Annas DNA einfügen? Ich hatte mich derart in Unkosten gestürzt, hatte viel Geld und Zeit für das Labor eingerichtet, und nun war das Risiko, daß es nicht funktionierte, verdammt hoch. Ich hatte mir zwar die entsprechende Nanotechnologie angeschafft, die nötig war, um die DNA auszutauschen, ohne die Eizelle als solche zu verletzen, aber ich hatte noch nie damit gearbeitet, und der kleinste Fehler konnte das unwiderrufliche Ende meines Projektes bedeuten.

Aber jetzt gab es kein Zurück. Der Tag X war gekommen. Ich betrachtete das Kästchen mit der Flüssigkeit unter dem Mikroskop. Die Flüssigkeit war keimfrei, auch das war wichtig. Bakterien schwammen keine darin. Gut so. Wenigstens eine Ex-Freundin hielt noch zu mir, und auf sie war auch wenigstens Verlaß! Dann, nachdem ich längere Zeit die Flüssigkeit durchsucht hatte, tauchte die Eizelle in meinem Blickfeld auf, ein rundes, durchsichtiges Etwas. Doch die DNA konnte ich nicht erkennen. Ich stellte das Mikroskop auf die höchsten Stufe ein, und dann sah ich sie: Ein winziger Punkt im Zellkern, aber es war unweigerlich die DNA. Von der Doppelhelix sah ich nichts, aber das war auch egal. Hauptsache, ich konnte damit umgehen. Ich schaltete die Apparatur ein. Ein Summen erfüllte das Badezimmer. Jetzt konnte es losgehen. Ich fuhr den Computer hoch und startete die Software. Jetzt konnte ich die Eizelle auf meinem Bildschirm sehen. Ich vergrößerte sie noch etwas, und dann sah ich sie, die Doppelhelix – zwar sehr klein, aber die Spirale war immerhin zu erkennen. Ich setzte mich an den Computer, nahm die Mouse und begann mit der Arbeit. Der Computer war mit der Nanotechnologie verbunden, die die Bewegungen meiner Mouse in reale Bewegungen der Apparatur umwandelten. Ich konnte auf dem Bildschirm jetzt eine winzige Pinzette erkennen, die ich mit Hilfe meiner Mouse steuern konnte. Das ging am Anfang etwas schwerfällig und erforderte einige Übung, aber es funktionierte. Bevor ich mich mit der Pinzette an die Eizelle wagte, bewegte ich sie lieber noch durch die Flüssigkeit, in der die Eizelle schwamm. Dann wurde es ernst. Langsam wagte ich mich an die Eizelle heran. Ich mußte jetzt ein mikroskopisch kleines Röhrchen in die Eizelle einfügen, ohne die Zelle zu zerstören. Das war gar nicht so einfach. Selbst in den Zellkern mußte das Röhrchen eindringen. Die empfindliche Membran der Zelle wurde vorsichtig durchstoßen. Das war normal, das war notwendig. Jetzt mußte ich vorsichtig sein. Die Bestandteile der Zelle wie zum Beispiel das Entoplasmatische Reticulum durften nicht zerstört werden. Auch der Zellkern durfte nur minimale Beschädigung aufweisen, so daß die Zelle sich wieder selber heilen konnte. Es dauerte lange, bis ich endlich den Mut hatte, die entscheidenden Schritte zu tun. Das Projekt hing an einem dünnen Faden. Ich drang endlich – nach langer Bedenkzeit – in den Zellkern ein. Jetzt war es so weit. Ich konnte am Keyboard die Tastenkombination eingeben, die die Apparatur einschaltete. Wenig später war die DNA aus der Eizelle ausgesaugt. Jetzt mußte alles ganz schnell gehen: Die Kopfhautzelle, die ich zuvor isoliert hatte, mußte ebenfalls angezapft werden, die DNA in die Eizelle eingeführt werden. Jede Minute war kostbar. Schließlich bestand die Gefahr, daß die Eizelle absterben würde. Ich entsorgte die DNA der Eizelle zunächst und nahm mir die Kopfhautzelle vor. Dabei bediente ich mich eines zweiten Röhrchens. Das andere mußte in der Eizelle bleiben, damit ich durch dieses Röhrchen die neue DNA einsetzen konnte. Zweimal mit einem Röhrchen in die Eizelle einzudringen, wäre zu riskant gewesen. Ich mußte die DNA aus der Kopfhautzelle aufsaugen, durch die Apparatur laufen lassen und sie in die Eizelle einsetzen. Diesmal ging es etwas schneller, denn die Kopfhautzelle konnte ich ruhig zerstören. Nur die DNA durfte auf keinen Fall beschädigt werden. Die DNA wurde eingesaugt, und wenig später fand sie sich in der Eizelle wieder. Jetzt hieß es nur noch, vorsichtig das Röhrchen aus der Eizelle herausziehen. Langsam. Bloß nichts zerstören. Es klappte alles wie am Schnürchen. Ich mußte die Eizelle jetzt nur noch in die Nährflüssigkeit legen, und der schwierigste Teil der Arbeit war getan. Der Rest würde ganz von alleine gehen.

Nachdem die Arbeit getan war, lehnte ich mich zufrieden zurück. Im Kühlschrank stand noch eine Flasche Sekt. Ich holte sie heraus, öffnete sie und fing an zu trinken. Es hatte geklappt. Ich konnte mit mir und meiner Arbeit zufrieden sein. Ich betrachtete die Nährflüssigkeit. Noch konnte man das, was sich darin abspielte, nicht mit bloßem Auge erkennen. Aber es war aufregend. Unwahrscheinlich aufregend! In dieser Badewanne entstand neues Leben. Menschliches Leben. Und ich beschloß, dieses menschliche Leben Annabella zu nennen, das heißt auf Deutsch so viel wie "Schöne Anna".

Da der heranwachsende Fötus nicht 24 Stunden am Tag lang beaufsichtigt werden mußte, konnte ich auch wieder anderen Aktivitäten nachgehen. So meldete ich mich eines Tages wieder bei Herrn Professor Eisenthal im Labor.

"Schön, daß Sie auch mal wieder auftauchen!" bemerkte er unfreundlich. "Wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt? Ans Telefon sind Sie nicht gegangen, E-Mails haben Sie auch nicht beantwortet..."

"Ich hatte wichtige Verpflichtungen", verteidigte ich mich. "Keine Zeit, sorry."

"Wichtige Verpflichtungen? Was denn? Uni konnte es nicht sein, da waren Sie auch nicht, und eine andere Arbeitsstelle als bei mir im Labor haben Sie meines Wissens auch nicht, was haben Sie getrieben?"

Ich wich ihm aus, doch er konnte seine Neugierde wie auch seine Wut nicht zügeln. Des weiteren wuchs auch sein Mißtrauen gegen mich, und allein die Tatsache, daß ich ihm nicht so recht sagen wollte, was los war, gefiel ihm ganz und gar nicht.

"Wissen Sie was?" sagte er schließlich. "So einen unzuverlässigen Hilfswissenschaftler wie Sie kann ich hier nicht gebrauchen. Sie sollten sich nach einer anderen Arbeitsstelle umsehen. Bei mir brauchen Sie nicht mehr aufzutauchen. Da komme ich allein besser zurecht."

Obwohl er recht hatte, verletzten mich diese Worte sehr, und mit zwiespältigen Gefühlen verließ ich sein Labor. Da hatte ich mich in etwas hineingeritten! Wochenlang hatte ich an nichts anderes mehr denken können als an Anna. Diese Frau hatte mir das Herz gebrochen, und auch wenn ich versuchte, mich mit etwas anderem zu beschäftigen, so gelang es mir nicht. Anna war mein Leben gewesen, doch sie hatte ein neues Leben angefangen. Von einer ihrer Freundinnen erfuhr ich während dieser Zeit, daß sie inzwischen wieder einen neuen Freund hatte. Dies machte mich noch mehr fertig. Denn es zeigte mir, daß ich für sie endgültig Vergangenheit geworden war. Manuela, einstmals meine Freundin, dann meine Ex-Freundin und beste Freundin, wurde bald meine einzige Freundin, denn ich kapselte mich immer mehr von meinen Freunden ab. Wenn sie abends ausgingen, ging ich nicht mehr mit ihnen. Was sollte ich noch in der Disco? Frauen aufreißen? Die Frau, die ich haben wollte und dann auch hatte, hatte ich verloren. Zum Schluß war nur noch Manuela geblieben. Sie war die einzige, die mich noch aushalten konnte und zugleich die einzige, der ich vertraute. Aber sie hatte auch nicht immer für mich Zeit, denn sie verbrachte sehr viel Zeit mit ihrem Freund, und in Zeiten, in denen ich Anna noch nicht gekannt hatte und noch in Manuela verliebt gewesen war, hatte ich ihr verboten, sich mit mir und mit ihrem Freund gleichzeitig zu treffen. Auch jetzt noch wollte ich nicht unbedingt dabei sein, wenn sie sich mit ihrem Freund traf. Das war auch mal anders. Ich dachte mit Sehnsucht an die Zeit zurück, in der wir zu viert ausgegangen waren – sie mit ihrem Freund und ich mit Anna.

Die meiste Zeit verbrachte ich im Badezimmer und sah zu, wie der Klon sich entwickelte. Aus einer Eizelle wurde ein Embryo, aus einem Embryo ein Fötus, aus dem Fötus ein Baby und aus dem Baby schließlich ein Kleinkind, das immer noch den Schlaf des Neugeborenen schlief. Und die Zeit schien wie ein Zeitraffer dahinzueilen. Innerhalb weniger Tage wurde Annabella älter. Wenn ich im Badezimmer saß, dachte ich viel an Anna, und ich kehrte in Gedanken zurück zu unserem ersten Date.

Schon von Anfang an war etwas zwischen uns gewesen, was ich nur schwer beschreiben kann. Ich wußte nur, zum ersten Mal in meinem Leben war etwas da, was ein Freund von mir vorher beschrieben hatte: Man braucht nur in die Augen einer Frau zu sehen, und schon weiß man ganz genau, was läuft. Immer wenn ich später in ihre Augen sah, hatte ich das unbeschreibliche Verlangen, sie zu küssen, auch später, nachdem sie mit mir Schluß gemacht hatte. Wir gingen an jenem Abend, dem Abend des ersten Dates, im Park spazieren, setzten uns auf eine Parkbank und sahen uns die ganze Zeit in die Augen, und trotzdem traute sich keiner von uns beiden, den Anfang zu machen, obwohl wir beide wußten, daß es noch an diesem Abend geschehen würde, daß wir noch an diesem Abend zusammenkommen würden. Immer wenn ich sie ansah, mußte sie lächeln, und das wiederum verzauberte mich. Trotzdem wußte ich noch nicht, wie sie reagieren würde, wenn ich den Anfang machte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon dieses Kribbeln im Bauch, das jeder hat, der verliebt ist, das aber niemand so recht beschreiben kann, dieses Gefühl, wenn man ganz hibbelig und hyperaktiv ist.

Ich ging mit ihr zum Auto. Wir hatten die verrückte Idee, an einen Ort zu fahren, an dem schöneres Wetter war, selbst wenn wir bis Paris fahren müßten. Wir verließen Heidelberg in südwestlicher Richtung. Irgendwo in einem Dorf südlich von Schwetzingen war ein Dorffest. Ein Teil der Hauptstraße war abgesperrt, und in einem kleinen Zeltpavillon spielte eine Band. Die Dorfjugend hatte sich vor dem Pavillon versammelt, sah der Band zu und tanzte dabei. Ich parkte das Auto in einer Seitenstraße, und gemeinsam gingen wir zu dem Fest. Es war eigentlich kein großes Fest, und der Regen, der nun langsam auch hier einsetzte, sorgte dafür, daß bald einige Besucher verschwanden. Nicht weit von dem erwähnten Bandpavillon entfernt war ein Bierstand von Eichbaum aufgebaut. Hier trafen sich etwas ältere Männer, doch auch hier lichteten die Reihen sich schon etwas. Es war bereits dunkel, und der Regen wurde stärker. Die Band aber spielte trotzdem weiter. Nicht weit vom Pavillon blieb Anna stehen. Ich wollte mit ihr zusammen zu den tanzenden Jugendlichen gehen, aber sie weigerte sich.

"Was ist los mit dir, Anna?" fragte ich sie.

"Ich traue mich nicht. Tja, das ist die dunkle Seite von mir."

"Wie, du traust dich nicht? Als wir uns kennengelernt haben, in der Disco, hast du den ganzen Abend nur getanzt und hier traust du dich nicht?"

"In der Disco, das ist etwas anderes."

Ich sah sie an und sie sah mich an. Sie lächelte. Ein bezauberndes Lächeln. Wenn ich daran zurückdenke, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut...

Weiter kam ich nicht mit meinen Gedanken, denn es klingelte bei mir. Wer konnte das sein? Von meinen Freunden hatte sich schon lange keiner mehr blicken lassen. Ich drückte den Knopf der Gegensprechanlage. "Ja, bitte?"

"Hi, hier ist Manuela", ertönte es aus der Anlage. "Kann ich hochkommen?"

Ich drückte den Knopf. Ein Summton ertönte. Ich öffnete zugleich die Wohnungstür, und wenige Augenblicke später stand Manuela bei mir in der Wohnung, die Haare hochgesteckt, eine Jeans-Latzhose an.

"Manu, solltest du nicht im Krankenhaus sein?"

"Ich habe heute meinen freien Tag. Du, ich habe mir das alles durch den Kopf gehen lassen. Du mußt das Experiment abbrechen."

"Das Experiment abbrechen? Warum?"

"Tu es, bevor es zu spät ist. Ich habe irgendwie ein ungutes Gefühl bei der Sache."

"Ein ungutes Gefühl? Wie meinst du das!"

Manuela betrat das Badezimmer und betrachtete sich den in der Nährflüssigkeit heranwachsenden Körper, der jetzt bereits aussah wie ein vierjähriges Kind. "Ist schon ganz schön gewachsen, meine Tochter."

"Deine Tochter?"

"Ja. Immerhin ist es meine Eizelle gewesen."

"Mag ja stimmen, aber es ist nicht deine DNA. Insofern kann es auch nicht deine Tochter sein."

"Das ist es ja. Wir können das arme Kind nicht ohne Eltern aufwachsen lassen. Ich denke, ich bin die Mutter, und du wirst dann wohl ihr Vater sein."

"Das geht nicht. Ich bin ja schon ihr Geliebter."

Manuela schüttelte den Kopf. "Darum geht es mir auch. Es sind so viele Dinge, über die ich nachgedacht habe. Du kannst nicht ihr Geliebter sein. Sie wird geistig ein kleines Kind sein, und ein kleines Kind kann sehr viel Schaden nehmen, wenn du mit ihm sexuell verkehrst."

"Aber sie wird kein kleines Kind sein. Sie wird den Körper einer Zwanzigjährigen haben. Deshalb glaube ich kaum, daß sie Schaden nehmen wird."

"Na und? Eine Zwölfjährige hat bereits den Körper einer Frau. Aber sie könnte trotzdem Schaden nehmen, wenn ein Erwachsener mit ihr sexuellen Kontakt hat. Und darum geht es hier. Verantwortung übernehmen. Mein Gott, Annabella ist nicht Anna. Du hast Anna verloren. Dies hier ist so etwas wie deine Tochter."

Ich sah Manuela an, dann wieder Annabella, dann wieder Manuela. Sie hatte recht. Aber trotzdem. Ich mußte das Experiment noch zu Ende führen, wollte ich nicht zerbrechen. Mit Schmerzen dachte ich zurück an meinen ersten Kuß mit Anna. Mein Herz blutete wieder. Worauf hatte ich mich da eingelassen? Annabella würde mich immer an Anna erinnern, so lange ich lebte.

"Aber das ist noch nicht alles, was mir Sorgen macht", fuhr Manuela fort. "Wußtest du, daß dies hier der erste Mensch ist, der jemals geklont wurde?"

"Das weiß ich", entgegnete ich.

"Ich weiß nicht. Ich habe noch ein anderes ungutes Gefühl. Irgendwie erinnert mich das sehr stark an Frankenstein."

"Komm schon. Ich baue hier kein Monster aus Leichenteilen. Ich klone eine schöne Frau. Das ist ein gewaltiger Unterschied."

"Du kreierst einen künstlichen Menschen. Einen, der in dieser Welt überhaupt nicht vorgesehen war. Du spielst Gott. Das ist kein Unterschied. Aber du mußt das Experiment abbrechen. Ich muß dich warnen."

"Warnen? Wovor?"

"Ich weiß nicht. Ich hab da so ´n ungutes Gefühl. Eine Vorahnung."

Ich seufzte. Manuelas Vorahnungen waren berüchtigt. Sie hatte irgendwie so etwas wie einen sechsten Sinn. Leider war dieser bei ihr nicht besonders ausgeprägt, und so hatte sie nur gute oder schlechte Vorahnungen, aber sie konnte wirklich nicht sagen, was passieren würde. Ich wünschte, ich hätte damals auf sie gehört.

"Aber das Experiment kann ich unmöglich abbrechen", entgegnete ich. "Das wäre so wie eine Abtreibung. Das, was da in der Wanne liegt, ist nicht irgendein Roboter oder so. Das ist ein Mensch, ein lebender Mensch, und wenn wir die lebenserhaltenden Systeme abstellen, wird das Mord sein."

"Trotzdem. Du mußt das Experiment abbrechen. Ich kann und will nicht die Verantwortung dafür übernehmen. Ich muß bescheuert gewesen sein, daß ich dir bei diesem Irrsinn geholfen habe."

"Manuela, hör mir zu, es ist mir verdammt wichtig."

"Hör auf damit. Ich bitte dich! Ich flehe dich an! Es wird dir nur Unglück bringen!"

"Nein", entgegnete ich. "Das ist mein letztes Wort!"

Manuela ging aus dem Badezimmer und verließ meine Wohnung. "Dann sieh zu, wie du selber damit klar kommst", schnaubte sie verächtlich. "Ich werde dir dabei nicht mehr helfen! Und komm bloß nicht auf die Idee, bei mir anzurufen, wenn was schiefgelaufen ist!"

Jetzt hatte ich es geschafft! Die letzte, die noch zu mir gehalten hatte, hatte ich nun auch vertrieben. Die einzige, die von meinem kleinen Geheimnis wußte, hatte sich nun mir in den Weg gestellt. Jetzt hatte ich niemanden mehr – nur noch meine Familie, meine Eltern und Geschwister, aber sie waren nie Menschen, mit denen ich großartig über Probleme geredet hatte. Sie wußten gerade mal, daß Anna mit mir Schluß gemacht hatte. Mehr nicht.

Als ich mit Anna während unseres ersten Dates auf diesem Dorffest irgendwo südlich von Schwetzingen stand, sahen wir uns gegenseitig in die Augen, und ich verspürte ein großes Verlangen, sie zu küssen, aber ich hatte meine Hemmschwelle noch nicht abgebaut. Ich hatte mir vorgenommen, sie noch an diesem Abend zu küssen, aber nicht sofort, sondern erst zum Abschied. Einen Zungenkuß wollte ich ihr dann geben. Doch das einzige, was ich mich jetzt traute, war, ihre Hand zu nehmen. Hand in Hand wie zwei verliebte Teenager gingen wir zum Auto, während der Regen langsam stärker wurde. Als wir im Auto saßen, sagte sie: "Wir sollten doch zurück nach Heidelberg fahren und uns dort in ein Café setzen."

Ich war einverstanden. Auf der Fahrt nach Heidelberg sprachen wir nicht miteinander, und all meine Hoffnungen schwanden inzwischen dahin. Wir fanden kein geeignetes Gesprächsthema. Als wir vor unserem ersten Date mehrmals miteinander telefoniert hatten, hatten wir immer ein Gesprächsthema gefunden, und nun... Es war seltsam. Obwohl wir uns so vertraut waren, waren wir uns gleichzeitig auf irgendeine Art immer noch Fremde – und im Grunde waren wir das auch, aber es kam mir so vor, als würde ich Anna schon jahrelang kennen.

Als wir in Heidelberg ankamen, war der Regen fast schon vorbei. Ich steuerte den Wagen am Neckar entlang, bis ich ihn endlich auf einem großen Parkplatz abstellen konnte. Nachdem wir ausgestiegen waren, ergriff ich ihre Hand. So wie wir zum Auto gegangen waren – Hand in Hand – so gingen wir jetzt weiter vom Neckar in die Altstadt mit ihren romantischen, verwinkelten Gäßchen. Vom Berge her grüßte das Schloß, das durch die Scheinwerfer rötlich-gelb leuchtete. Wir betraten die verwinkelten Gäßchen zwischen alten Häusern, und als es dunkler wurde, nahm ich Anna in den Arm und sagte, ich wollte sie beschützen. Während wir weitergingen, kamen wir irgendwie auf den Kosovo-Konflikt zu sprechen. Sie fragte mich, ob das Kosovo ursprünglich den Serben oder den Albanern gehört hätte, und ich erklärte ihr: "Ursprünglich hatte das Kosovo zu den Serben gehört. Aber das Kosovo ist den Serben vor allem deswegen wichtig, weil da das Amselfeld drin liegt, und auf dem Amselfeld hat eine Schlacht gegen die Türken stattgefunden, die die Serben verloren haben. Die Serben sind schon ein eigenartiges Volk. Ich meine, sie haben die Schlacht verloren, und trotzdem machen sie ein nationales... nationales, ich meine..."

Sie sah mich an, und ich sah direkt in ihre Augen. Wenn nicht vorher schon der Funke übergesprungen war, dann war es jetzt passiert. Ich spürte ein unheimliches Kribbeln im Bauch und konnte mich nicht mehr konzentrieren. Alle meine Gefühle spielten durcheinander, und sie schien es gemerkt zu haben. Aber ich konnte mich wieder fangen und fortfahren: "Also, jedenfalls war das Kosovo dann türkisch, und die Türken haben dann Albaner im Kosovo angesiedelt. Aus diesem Grund leben heute Serben und Albaner im Kosovo, und alle haben Anspruch auf das Gebiet. Darum geht es im Kosovo-Konflikt."

Sie blieb stehen, und was jetzt geschah, ging so schnell und war für mich so überraschend, daß es mich einfach überwältigte, und noch später haben wir unserer Beziehung oft über diesen Moment geredet. Sie sah mich an. Ihre Lippen näherten sich den meinen. Sie öffnete ihren Mund, und nur wenig später berührten sich unsere Zungen. Eine Welle des Glücks überspülte mich. Nicht nur daß ich Anna, die ich vom ersten Augenblick an so schön und sympathisch gefunden hatte, nun meine Freundin nennen durfte, nein, daß es von ihr ausgegangen war, daß zum ersten Mal in meinem Leben die Frau die Initiative ergriffen hatte und nicht ich die Initiative hatte ergreifen müssen. Daß nicht nur ich sie wollte sondern sie auch mich, machte mich unendlich glücklich. Und dieser Abend wurde zum schönsten Abend meines Lebens.

Aber diese Zeiten waren jetzt vorbei. In meiner Badewanne lag ein Kind, das aussah wie eine jüngere Version von Anna. Anna hatte mir mal ein Fotoalbum mit Fotos von früher gezeigt. Genauso sah nun das Mädchen aus, das in meiner Badewanne lag. Und sie wurde älter – man konnte beim Alterungsprozeß regelrecht zusehen. Wenn alles ohne Komplikationen verlief, würde es keine drei Tage mehr dauern, und ich könnte Annabella in meine Arme schließen...

Ich verbrachte die nächsten Tage nur noch am Badezimmer, überwachte Annabellas Wachstumsprozeß und verließ den Raum nur nachts zum Schlafen und wenn ich Hunger hatte und was essen wollte. Nicht weit von meiner Wohnung entfernt war ein kleiner, türkischer Imbiß. Dort konnte ich Döner, türkische Pizza und Ayran zu mir nehmen. Anna hatte türkisches Essen geliebt, und mir gefiel es auch, zumal es in der ganzen Stadt der Ort war, wo ich am schnellsten etwas zu essen bekommen konnte. Es waren nur wenige Schritte dorthin. Einkaufen gehen und mir etwas zu essen machen hätte viel länger gedauert. Wollte ich frühstücken, ging ich zum nächsten Bäcker und holte mir Brötchen und Marmelade, wie ich es damals so oft mit Anna zusammen getan hatte. Mit Sehnsucht erinnerte ich mich an die neidischen Blicke, die mir damals die Männer zugeworfen hatten, die unseren Weg kreuzten. Ich war mit Anna einfach überaus glücklich gewesen.

Es war ein Wochenende, als Annabella endlich zum Leben erwachte. Zu einem Zeitpunkt, da sie genau so aussah, wie ich Anna in Erinnerung hatte, weckte ich sie. Ich ließ die Nährflüssigkeit ab und schaltete die Geräte aus. Sie lag in der Badewanne, nackt, wie ich sie erschaffen hatte, und sah mich mit ihren großen, bezaubernden Augen an. Ich lächelte, und sie lächelte zurück. Ihre Augen, ihr bezauberndes Lächeln... Ich konnte einfach nicht anders. Meine Lippen näherten sich den ihren, berührten sie. Als ob sie von einem Instinkt gesteuert würde, machte sie mit. Es war seltsam. Sie wußte nicht, was mit ihr geschah, und trotzdem schien es ihr zu gefallen. Unsere Zungen berührten uns, spielten miteinander. Das Kribbeln in meinem Bauch, das ich letzte Mal gespürt hatte, als ich Anna das letzte Mal gesehen hatte, kam wieder, überflutete meinen ganzen Körper. Eine Welle unglaublichen Glücks übermannte mich, riß mich fort. Ich umarmte, ihren frischen, nackten Körper, der noch ganz feucht und glitschig war. Aber es fühlte sich großartig an. Ich berührte ihre Brüste. Ihr Körper war einfach noch besser gebaut, als es Annas Körper je gewesen war. Ich spürte ihr Verlangen, ihre Leidenschaft, streichelte ihren ganzen Körper. Sie fing an, mich zu streicheln. Ein Mensch, der zum ersten Mal in seinem Leben spürte, was Liebe bedeutete. Und es war nicht die Liebe eines Kindes zu seiner Mutter, was von ihr entgegenkam. Nein, es war mehr. Die Gefühle überwältigten mich. Ich mußte es einfach tun. Ich riß mir die Kleider vom Leib, preßte meinen nackten Körper an den ihren, und in wilden, ekstatischen Bewegungen begannen wir mit dem Vorspiel, dem Reiterspiel...

Das erste Mal, daß ich mit Anna das Reiterspiel gespielt hatte, war als wir eine Woche zusammen gewesen waren. Nach zwei Wochen hatten wir das erste Mal miteinander geduscht, und nach einem Monat hatten wir das erste Mal miteinander geschlafen. Sieben Monate waren wir zusammen gewesen, als sie mit mir Schluß gemacht hatte. Mit Anna hatte ich meinen ersten Sex. Bei Annabella ging alles viel schneller, aber irgendwie war es auch einfacher, denn sie hatte noch keinen eigenen Willen. Dafür aber das Bedürfnis, das ihr die Natur mitgegeben hatten, so wie bei den Schafen damals bei diesem anderen Klonversuch. Sie waren gerade der Nährflüssigkeit entstiegen, von der geistigen Entwicklung her kleine Kinder, aber sexuell waren sie schon voll ausgereift gewesen – mit all ihren Instinkten und Bedürfnissen.

Ich drang in sie ein, zerstörte ihr Hymen. Sie zuckte ein wenig zusammen. Blut floß aus ihrer Vagina. Für einen kurzen Moment zögerte sie, doch dann machte sie weiter, und obwohl sie eben gerade, nur wenige Minuten nach ihrer Geburt, entjungfert wurde, war sie gut – besser als Anna gewesen war. Und doch: Annabella erinnerte mich derart an Anna, daß ich glaubte, ich würde mit ihr schlafen.

Als es vorbei war, war ich müde, denn immerhin hatte ich schon seit Tagen nicht mehr geschlafen, hatte Nächte durchgewacht. Jetzt legte ich mich in mein Bett und schlief ein.

Als ich wieder aufwachte, sah mein Zimmer fürchterlich aus: Bücher lagen verstreut auf dem Boden herum, bei einigen waren die Seiten auseinandergerissen. Im Badezimmer war der Wasserhahn angedreht und plätscherte munter vor sich hin. Ich ging in die Küche, wo allerhand Scherben von Geschirr auf dem Boden verstreut lagen. Der Herd war eingeschaltet, die Herdplatten waren wahrscheinlich heiß, und auch hier lief der Wasserhahn. Die Schränke waren ausgeräumt, das Geschirr lag entweder zerbrochen auf dem Fußboden oder war in der ganzen Wohnung verteilt. Entsetzt rannte ich ins Badezimmer, wo die teuren Gerätschaften, die mir ein Vermögen gekostet hatten, nun auf dem Boden verstreut waren. Der Computer war in alle Einzelteile zerlegt. Wasser hatte Platinen wie Gehäuse außer Gefecht gesetzt. Die Flasche mit dem Eau de Toilette, das mir Anna mal geschenkt hatte, war auf dem Boden zerschellt, mit ihm die Flüssigkeit. Dann bemerkte ich Annabella, wie sie in der Badewanne saß und mit der Küchenschere Muster in mein bestes Hemd schnitt.

"Annabellea, was machst du da?" fragte ich. Ich war der Verzweiflung nahe. Ich hätte sie niemals aus den Augen lassen dürfen. Während ich geschlafen hatte, hatte sie ein derartiges Chaos angerichtet, daß es sicherlich Tage wenn nicht gar Wochen dauern würde, bis ich alles wieder in Ordnung gebracht hatte. Ich riß ihr die Schere und mein Hemd aus der Hand. Sie sah mich nur mit großen Augen an. Dann stand sie auf, beugte sie zu mir hin und gab mir erneut einen Zungenkuß. Ihr schien es zu gefallen, aber ich hatte langsam die Schnauze gestrichen voll. Annabella war schlimmer als ein kleines Kind. Klarer Fall: Sie hatte den Geist eines kleinen Kindes, aber den Körper einer erwachsenen Frau. Sie konnte die Dinge erreichen, die für ein kleines Kind zu hoch waren: Schränke und Regale aller Art. Auch hier konnte sie Unheil anrichten, was ein kleines Kind niemals geschafft hätte.

Ich beschloß, das Chaos erst einmal aufzuräumen und dabei darüber nachzudenken, was ich mit Annabella anstellen sollte. Jetzt, da ich sie in die Welt gesetzt hatte, konnte ich sie unmöglich töten. Nein, das wollte ich auch gar nicht. Schafe töten, das ist etwas anderes. Wenn ich Annabella tötete, war das unzweifelhaft Mord, und zum Mörder wollte ich wegen ihr nicht werden. Außerdem gab mir Annabella etwas: Sie war zwar nicht Anna, aber mit ihr konnte ich den Traum, den ich mit Anna angefangen hatte, weiterträumen. Ich hatte mit ihr meinen Spaß, Freude und das Gefühl, geliebt zu werden, das mir in all der Zeit, seitdem Anna mit mir Schluß gemacht hatte und zwischen Manuela und Anna sowie vor Manuela gefehlt hatte. Diesmal war ich auch sicher, daß sie nicht mit mir Schluß machen und mich dadurch erneut verletzen würde. Allerdings konnte ich sie keine Sekunde allein lassen, und dadurch erwuchsen einige Schwierigkeiten: Entweder ich konnte meine Wohnung nicht mehr verlassen, oder ich mußte sie überallhin mitnehmen, oder ich brauchte einen Babysitter. Letzteres wäre wohl die einfachere Möglichkeit gewesen. Aber wo bekam ich einen Babysitter her, der auf eine zwanzigjährige Frau aufpaßte, ohne daß er sie in die Klapsmühle einweisen ließ? Manuela war die einzige Möglichkeit, aber zum einen war sie ständig entweder im Krankenhaus oder bei ihrem Freund und zum anderen hatte sie mit meinem Experiment nichts mehr zu tun haben wollen. Alle anderen hatten nie etwas davon erfahren, und das war auch besser so. Aber andererseits mußte ich auch raus. Ich mußte einkaufen gehen – da konnte ich Anna notfalls auch mitnehmen -, aber ich mußte auch studieren – na gut, so oft wie ich da gefehlt hatte, war das Semester inzwischen für mich sowieso gelaufen -, und vor allem mußte ich zusehen, daß nach all diesen Ausgaben, die ich für das Klonen hatte aufbringen müssen, wieder Geld hereinkam, das heißt, ich mußte arbeiten gehen. Ich war ja faktisch pleite. Und zur Arbeitsstelle konnte ich unmöglich eine Geliebte mitnehmen, die sich benahm wie ein kleines Kind.

Aber wenn sie sich verhielt wie ein kleines Kind, mußte ich sie auch wie ein kleines Kind behandeln. Zunächst mußte sie etwas essen. Sie war ja viel zu dünn. Aber das würde ich nicht beheben können, denn das war genetisch bedingt. Anna hatte für ihr Leben gern Schokolade gegessen, und die hatte sie sich nur so in sich hineingestopft, aber sie hatte niemals Sport getrieben. Trotzdem war sie extrem dünn geblieben. Das lag wohl an den Genen. Professor Eisenthal hatte mal zu mir gesagt: "Es gibt viel mehr Dinge, die an den Genen hängen, als man glaubt. Die Natur belohnt so manchen Menschen, und manchen bestraft sie. Ich kenne einen, der hat in seiner frühen Kindheit sehr viel Sport getrieben, und ihm hat Sport sehr viel Spaß gemacht. Trotzdem war er einer der unsportlichsten Menschen, die ich je gesehen hatte. Eine Bekannte von mir ist dick, hungert Tag und Nacht und wird als nicht schlanker. Eine Freundin von ihr dagegen kann so viel essen, wie sie will: Sie wird nicht dicker. Ich glaube sogar, daß so manche Charaktereigenschaft genetisch bedingt ist."

Das stimmte, und es erklärte auch, warum Annabella Anna zum Verwechseln ähnlich sah. Es stimmte alles. Nur fehlte bei Annabella der Bauchnabel, und außerdem fehlte bei ihr eine Operationsnarbe. Als Anna zwölf Jahre alt gewesen war, hatte man ihr den Blindarm entfernt. Die Operationsnarbe an ihrem Bauch war immer noch zu sehen gewesen, als sie mit mir zusammen war. Annabella hatte diese Narbe nicht.

Mir fiel ein, daß ich mit Annabella noch unbedingt zum Arzt mußte. Wenn Anna Schwierigkeiten mit dem Blinddarm hatte, würde es bei Annabella sicherlich genauso sein. Aber was erzählte ich dem Arzt? Was erzählte ich dem ganzen Umkreis? Was erzählte ich den Kommilitonen, die ich kannte und meinen ehemaligen Freunden, von denen ich hoffte, daß ich sie wieder für mich gewinnen würde? Ich wußte: Ich mußte mit Annabella an die Öffentlichkeit – am besten jetzt gleich. Denn sie mußte etwas essen. Ich hatte allerdings nichts zu essen zu Hause.

Aber so nackt, wie sie im Moment war, konnte ich mit ihr unmöglich aus dem Haus gehen. Also beschloß ich, ihr Klamotten von mir anzuziehen, denn ich hatte keine Frauenkleider bei mir zu Hause. Auf einen Büstenhalter mußte ich deshalb verzichten. Stattdessen zog ich ihr meine engste Herrenunterhose, meine engsten Jeans und mein engstes Hemd, unter dem Hemd noch ein weites Unterhemd von mir, denn es sollten nicht alle Männer, denen ich begegnete, auf ihre Brüste starren. Es war nicht so einfach, Annabella anzuziehen. Sie konnte sich selbst nicht anziehen, und sie wehrte sich sogar dagegen, daß ich sie anzog, strampelte mit Armen und Beinen, schüttelte den Kopf, als ich ihr das Unterhemd überzog.

"Du mußt etwas anziehen, Annabella", sagte ich. "Ich kann dich nicht nackt auf die Straße lassen."

Es nützte nichts. Sie konnte noch nicht reden. Sie würde es lernen, natürlich. Aber ich mußte es ihr beibringen. Ich war ihr Vater und Geliebter gleichzeitig, und so mußte ich auch die Verantwortung für sie übernehmen.

Als sie angezogen war, merkte ich, daß ihr meine Sachen etwas zu groß waren. Und etwas zu lang dazu. Sie war ja extrem dünn und etwas kleiner als ich. So konnte ich unmöglich mit ihr durch die Stadt gehen. Ich mußte zuerst auf schnellstem Wege zu einem Kaufhaus, um ihr wenigstens eine Garnitur Frauenkleider zu kaufen.

Ich zog ihr zum Abschluß noch Schuhe und Strümpfe an. Auch das erwies sich als sehr schwierig, denn sie trat nach mir. Aber als sie es endlich geschafft hatte, lächelte sie mich wieder an, beugte sich zu mir vor, und ehe ich es versah, hatte ich wieder ihre Zunge im Mund. Sie sah das wahrscheinlich als eine Art Spiel an.

Noch während sie mich küßte, legte ich meinen Arm um ihren Rücken, und sie legte den ihren um meinen, und so schlenderten wir gemeinsam aus meiner Wohnungstür heraus. Ich ließ nicht ab von ihr. Auch als ich abschloß, paßte ich auf, daß sie bei mir blieb und nicht entschwand. Im Aufzug küßte sie mich erneut. Sie war so zärtlich aber gleichzeitig auch so zärtlichkeitsbedürftig, daß es mir ganz warm ums Herz wurde. Da ich für sie Vater und Geliebter zugleich war, überhäufte sie mich mit Liebe, während ich auf Wolke sieben schwebte.

Der Weg zur Straßenhaltestelle zog sich in die Länge. Alle paar Schritte hielten wir an und küßten uns. Ich fühlte mich wie in einem wunderschönen Traum, der aber ab und zu wieder zu einem Alptraum wurde.

Plötzlich bemerkte ich Alex. Alex war ein Kommilitone von mir, eigentlich ein Arschloch, aber er war früher auch oft mit gewesen, wenn ich mit Anna, ihren Freundinnen und meinen Freunden zusammen abends die Gegend unsicher gemacht hatte. Er kannte mich recht gut. Anna kannte er auch, und er hatte auch noch mitbekommen, daß sie mit mir Schluß gemacht hatte. Hin und wieder begegnete ich ihm aus Zufall auf der Straße. Er wohnte nicht weit von mir entfernt, und er studierte auch irgendwo im Feld, so daß wir manchmal in der selben Straßenbahn fuhren und ein wenig miteinander redeten. Small Talk. Ich hätte ihm niemals auch nur irgendwas aus meinem Privatleben anvertraut. Und ausgerechnet ihm mußte ich jetzt begegnen! Ausweichen war nicht mehr möglich. Er hatte Annabella und mich bemerkt und lief schon auf uns zu.

"Hallo", sagte er. "Hey, ihr seid ja wieder zusammen! Das ist ja ´n Ding. Nach ihrem letzten Brief wollte sie dich doch nie mehr sehen."

"Woher weißt du denn davon?" fragte ich mißmutig.

"Aber Anna, hey, cooler Look. Wo hast du bloß diese abgefahrenen Klamotten her? Steht dir ausgezeichnet!"

"Naja", sagte ich. "Anna hat heute nacht bei mir gepennt, und irgendwie sind dabei ihre Kleider abhandengekommen." Ich grinste. "Du weißt ja, bei unseren Liebesspielchen..."

"Oh lala, bei dir geht's ja wieder heftig zur Sache. Und ich habe seit zwei Monaten keine Frau mehr gehabt. Seit zwei Monaten! Stell dir vor, was für eine Tortur! Ach übrigens: Hab dich schon lange nicht mehr in der Disco gesehen. Heute abend ist wieder Nachtschicht angesagt. Kommst du mit?"

Ich sah Annabella an. "Du, ich würde gerne mal wieder in die Nachtschicht, aber Anna ist zur Zeit etwas seltsam drauf."

"Alles klar, Alter. Hey, wir sehen uns. Hat mich gefreut."

Er drückte mir die Hand, und Annabella wollte ihm auch die Hand drücken, doch dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: Anstatt seine Hand zu nehmen, umarmte sie ihn, preßte ihre Lippen auf die seinen und öffnete den Mund. Zunächst schien er das Spielchen mitzumachen. Ja, es schien ihm sogar zu gefallen. Doch dann riß er sich von ihr los.

"Sag mal, Anna, spinnst du?" schrie er entrüstet. "Du hast doch den Arsch offen. Du kannst mich doch nicht vor den Augen deines Freundes dermaßen abknutschen!"

Annabella sah mich traurig an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich dachte nur eines: Schnell weg hier, bevor Alex Verdacht schöpfte.

"Tja, ich glaube, wir sollten besser gehen. Anna geht es heute nicht so gut." Mit diesen Worten nahm ich Anna bei der Hand und sah zu, daß ich Land gewann. Kurz vor der Haltestelle sah ich mich noch einmal um. Alex stand immer noch da, wo wir vor wenigen Augenblicken miteinander geredet hatten. Er blickte uns nach und hatte den dämlichsten Fragezeichenblick aufgesetzt, den man sich denken kann.

Während wir auf die Straßenbahn warteten, dachte ich voller Eifersucht daran, daß Annabella Alex einen Zungenkuß geben wollte. Wahrscheinlich glaubte sie, daß das alle so miteinander machten. Ich war also nichts besonderes für sie. Vielleicht würde sie auch mit jedem Mann ins Bett gehen. Ich mußte viel besser auf sie aufpassen, als ich es jemals gedacht hätte. Annabella wußte einfach noch nichts von dieser Welt. Vieles, was ich bisher mit ihr getan hatte, mußte für sie völlig normal gewesen sein. Es hatte ihr gefallen, sicher, aber hatte es wirklich ihren Gefühlen entsprochen? Hatte sie Gefühle für mich? Liebte sie mich? Und wenn ja: Mehr als Vater oder mehr als Geliebter? Ich war schon ganz durcheinander, konnte nicht mehr klar denken. Sie küßte mich wieder, aber irgendwie war es nicht mehr so schön wie vorher. Es hatte von seiner Exklusivität verloren. Annabella war nicht meine Freundin. Ich wußte nicht, wie zu mir stand, aber sie glaubte, die Umgangsformen, die ich ihr beigebracht hatte, wären in dieser Gesellschaft üblich.

"Hör zu", sagte ich, als unser Kuß beendet war. "Du darfst nicht jeden küssen. Ein Kuß ist etwas ganz besonderes. Du solltest nur denjenigen küssen, den du ganz besonders gern hast."

Leider verstand sie mich nicht. Sie sah mich nur mit einem Fragezeichenblick an. Dann öffnete sie den Mund und fing an zu plappern. Sinnloses Kauderwelsch. Aber immerhin schon mal ein Fortschritt. Ein Ende des Schweigens. Leider hatte sie wohl noch nicht begriffen, daß das Sprechen einen Sinn machte. Für sie war das alles nur Geplappere, so wie das eigene Geplappere, das sie nun von sich gab. Ich bekam langsam Angst. Angst, ich könnte mich blamieren. Oder man könnte mir Annabella wegnehmen. In eine Klinik einweisen. Eine Zwanzigjährige die derart herumplapperte, das konnte einfach nicht normal sein. Die anderen Leute würden denken, sie wäre geisteskrank. Alex dachte das wahrscheinlich sowieso schon von Annabella, die er für Anna gehalten hatte.

Endlich kam die Straßenbahn. Wir stiegen ein. Ich hatte meine Mühe, Annabella von einem Mann jungen wegzuzerren, der sie angelächelt hatte und den sie eben wieder umarmen und küssen wollte. "Beherrsch dich, Annabella!" schnauzte ich sie an. Um sie von solchen Aktionen abzuhalten, umarmte ich sie wieder und küßte sie. Der junge Mann, der sie eben noch angelächelt hatte, sah diskret weg. Die anderen Fahrgäste dagegen sahen uns beide an, als wären wir von einem anderen Stern. Um zu verhindern, daß Annabella noch mehr anstellte, ließ ich sie nicht mehr los. Ich küßte sie lange und leidenschaftlich, ließ mich durch nichts mehr aufhalten. Dadurch verpaßte ich die Haltestelle Bismarckplatz, wo wir eigentlich hätten aussteigen sollen. Stattdessen fuhren wir weiter in der Straßenbahn in Richtung Rohrbach. Da geschah es dann: Einmal davon abgelenkt, daß ich diesen Teil der Stadt überhaupt nicht oder nur sehr wenig kannte und mich erst einmal orientieren mußte, wo wir waren, und schon war das Unglück passiert: Ich hatte Annabella losgelassen, aber sie hatte sofort etwas gesehen, was sie interessierte: Einen roten Hebel oberhalb des Straßenbahnfensters. Daß sie daran herumspielen wollte, bemerkte ich erst, als es zu spät war: Ich schrie noch: "Annabella, laß das sein!" Im nächsten Moment kam die Straßenbahn mit einem gewaltigen Ruck zum Stillstand.

"Na ganz toll", sagte ich mehr zu mir selber als zu Annabella. "Jetzt sitzen wir in der Scheiße."

Die Leute waren aufgebracht über Annabella, vor allem aber über mich. Sie redeten wild durcheinander, und ich konnte Sätze hören wie "Paß doch besser auf deine Freundin auf!" oder "Die steht bestimmt unter Drogen!" oder "Schon mal ein so verrücktes Huhn gesehen?" Ein etwas dicklicher, ungepflegt aussehender Mann mit kariertem Hemd, langen, klebrigen Haaren und einem Dreitagebart raunte mir zu: "Warum schießt du sie nicht in den Wind, wenn sie sich so verrückt verhält?"

Inzwischen fuhr die Straßenbahn wieder. Daß Mißbrauch der Notbremse strafbar ist, hatte zum Glück niemanden interessiert. Polizei war keine in der Nähe, HSB-Kontrolleure gab es in diesem Wagen keine, und die Fahrerin hatte auch besseres zu tun als mitten auf der Stelle stehenzubleibenn und in dieser aufgebrachten Menge nach einem Schuldigen zu suchen. Hinterher wollte es dann meistens doch keiner gewesen sein. Sie ahnte wahrscheinlich nicht, daß es diesmal alle Fahrgäste gesehen hatten, da wir sowieso ihre Aufmerksamkeit auf uns gezogen hatten.

Doch das schlimmste war: Annabella fing wieder an zu plappern. Sie plapperte wie ein kleines Kind, wie eine Geisteskranke. Ich sah schon vor meinem geistigen Auge, wie man sie nach Wiesloch brachte, um sie dort in der Psychiatrie einzuweisen.

Ich hielt es für besser, an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Das war wohl das klügste und gesündeste. Die aufgebrachten Fahrgäste, die es gewiß eilig hatten und von solchen Spielchen wie mit der Notbremse spielen ganz bestimmt nicht viel hielten, machten mir langsam Angst. Und es war sicher möglich, daß einer von ihnen mit seinem Handy bestimmt schon bei der Polizei oder gar in der Psychiatrie angerufen hatte. Ich nahm Annabella bei der Hand, und gemeinsam stiegen wir an der nächsten Haltestelle aus. Ich setzte mich auf die Bank an der Haltestelle und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Annabella setzte sich zu mir und streichelte sanft meine Haare. In puncto Zärtlichkeit hatte sie sehr schnell gelernt. Leider nicht in puncto sozialer Umgang. Jetzt küßte sie mich wieder. Warum auch nicht? Es machte uns beiden Spaß. Aber ich fragte mich langsam schon, wie lange es mir noch Spaß machen würde. Noch entschädigte es mich für ihre Eskapaden, noch liebte ich sie über alles und konnte es noch ertragen, daß sie mich nervte, aber es würde sicherlich nicht mehr lange dauern.

In der Nähe der Haltestelle befand sich ein McDonald's. Sehr gut. Ich hatte großen Kohldampf, und auch meine geklonte Freundin konnte etwas zu essen sicherlich sehr gut vertragen. Innen war zum Glück recht wenig Betrieb. Dennoch erregten wir wieder die Aufmerksamkeit der Gäste wie des Personals. Annabella sah eben schon von weitem etwas schräg aus. Ich ging mit ihr zur Theke. Bestellte für uns beide je ein Spar-Menue mit 6er Chicken McNuggets. Da konnte sie am wenigsten falsch machen. Bei allem, was zwischen zwei Brötchenhälften steckte, hätte sie bestimmt gnadenlos gekleckert. Aus Rücksicht darauf verzichtete ich sogar auf die Soße. Das einzige, womit sie jetzt noch kleckern konnte, war die Cola. Damit sie kein Tablett tragen mußte, stellte ich beide Menues auf ein Tablett und trug es für sie, während sie – treu wie ein Dackel – hinter mir hertrottete. Wir setzten uns in den Nichtraucherbereich, oder besser: Ich setzte mich an einen Tisch für zwei Personen, stellte das Tablett mit den beiden Menues auf den Tisch, und sie setzte sich auch, allerdings nicht mir gegenüber, sondern direkt auf meinen Schoß. Und dann küßte sie mich wieder.

Ich schüttelte den Kopf. Annabella hatte noch viel zu lernen. Verdammt viel. Das, wofür ich 20 Jahre gebraucht hatte, konnte sie jetzt innerhalb von wenigen Stunden noch nicht gelernt haben. Das war klar. Aber ich sollte mal langsam anfangen, ihr etwas beizubringen.

"Annabella, bitte steh auf", sagte ich, aber sie blieb auf meinem Schoß sitzen. Dann kam mir die Idee: Sie benahm sich wie ein kleines Kind, warum sollte ich sie dann nicht auch füttern wie ein Kleinkind? Ich öffnete die erste Tüte mit den 6er Chicken McNuggets und schob ihr das erste Stück in den Mund. Es funktionierte! Und es schien ihr sogar zu gefallen! Sie kaute sogar, bevor sie das Hühnchenfleischstückchen herunterschluckte. Wahrscheinlich hatte ihr das irgendein Instinkt gesagt. Als nächstes schob ich mir selber ein Nugget in den Mund. Von nun an ging es immer abwechselnd: Ein Nugget für sie und eines für mich. Dazwischen ein paar Pommes Frites, die ich ihr in den Mund schob. Die Fütterung klappte wie am Schnürchen. Die anderen Gäste sahen uns erstaunt an, aber sie schienen das, was wir trieben für eine Art Liebesspielchen zu halten. Fatal wurde es erst, als ich ihr Cola zu trinken gab. Ich führte den Strohhalm zu ihrem Mund, aber sie konnte nichts damit anfangen und biß erst einmal hinein. Ich dachte, sie würde schon alleine auf den Trichter kommen, daß der Halm eigentlich zum Trinken da war, aber weit gefehlt: Der Strohhalm schien ihr zu schmecken. Sie biß weiter darauf herum, zerkaute die Plastik und holte mit ihren Zähnen schließlich den Halm aus dem Becher heraus, während sie weiterhin genüßlich darauf herumkaute. Und wieder einmal standen wir im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Mir wurde die ganze Situation langsam peinlich. Ich kam mir wirklich bald so vor, als wäre ich mit einer Geisteskranken unterwegs. Ich hatte all meine Mühe, ihr den Strohhalm wieder abzunehmen. Und dann plapperte sie wieder. Es war furchtbar: Wenn sie gerade nicht küßte, plapperte sie, und wenn sie beides nicht tat, stellte sie allen möglichen Unfug an. Ich entfernte den Plastikdeckel vom Pappbecher und gab ihr den Pappbecher, drückte ihn ihr in die Hand. Sie sah mich fragend an, denn sie wußte nicht, was sie damit anfangen sollte. Schnell, bevor sie wieder das falsche tat, entfernte ich Strohhalm und Plastikdeckel von meinem Pappbecher und fing an zu trinken. Sie ahmte es mir nach, bekam dabei aber Probleme mit den Eiswürfeln. Sie verschluckte einen und mußte wegen der Kälte des Eises husten. Ich klopfte ihr auf den Rücken. Wenig später ging es ihr wieder besser, und ich konnte sie wieder füttern. Das war nochmal gut gegangen.

Leider kam sie aber auch sehr bald auf die Idee, mich zu füttern. Ich ließ es zunächst geschehen, und es klappte auch nicht schlecht. Leider jedoch stellte sie sich dabei etwas ungeschickt an. Sie wollte gerade in die Tüte greifen, um mich mit einem weiteren Chicken McNugget zu füttern, doch sie hatte nicht auf ihre Cola geachtet. Mit einem gekonnten Stoß mit den Ellenbogen stieß sie den Becher um. Ich wollte ihn noch auffangen, aber es war bereits zu spät. Eiswürfel und Cola ergossen sich über das Tablett, Tisch und Fußboden, über die andere Tüte Chicken McNuggets und die andere Tüte Pommes Frites und nicht zuletzt über meine guten Klamotten, die wir beide anhatten.

"Scheiße", knurrte ich. Langsam kam ich mir vor wie in einem Cartoon. Ich rannte dorthin, wo es Servietten und Strohhalme gab, und legte mir einen guten Vorrat an Servietten an, achtete dabei aber darauf, daß ich Annabella nicht aus den Augen verlor. Diesmal hatte ich Glück. Während meiner Abwesenheit hatte sie nichts angestellt. Dafür plapperte sie jetzt wieder. Doch ich kümmerte mich nicht darum. Ich sah zu, wie ich die verschüttete Cola aufwischte. Die Tablettunterlage war sowieso nicht mehr zu retten, aber das war auch das unwichtigste. Als viel schlimmer empfand ich, daß meine Kleidung ruiniert war, und zwar sowohl die, die sie an hatte, als auch die, die ich an hatte. Jetzt einkaufen zu gehen, das würde nichts bringen. Man würde uns beide für total meschugge erklären, wenn wir uns in diesem Aufzug unter die Leute wagten. Außerdem war es äußerst unangenehm, nasse oder zumindest teilweise nasse Sachen zu tragen. Ich mußte sie wieder mit nach Hause bringen. Dort sollten wir uns erst einmal umziehen – oder besser ausziehen und dann den ganzen Rest vom Wochenende im Bett verbringen. Ich konnte mir dann währenddessen überlegen, wie es weitergehen sollte. Denn eines war klar: So wie bisher konnte es unmöglich weitergehen. Es mußte etwas geschehen. Ich brauchte einen Babysitter, einen der mir bei Annabellas Erziehung half. Auch wenn sie aussah wie eine Zwanzigjährige: Sie war noch ein kleines Kind, und das durfte ich niemals vergessen. Daß ich sie keinen Augenblick unbeaufsichtigt lassen durfte, hatte ich an diesem Samstag schon mehrmals gemerkt. Aber über die Probleme, die sich daraus ergaben, hatte ich mir noch kaum Gedanken gemacht. Entweder ich nahm sie mit, wenn ich aus dem Haus ging, und dann würden ständig solche Dinge passieren wie heute, oder ich ließ sie zu Hause, dann würde sie dort meine Bude auf den Kopf stellen, oder ich ging selber so lange nicht aus dem Haus, bis sie einigermaßen vernünftig geworden war. Aber dann würden sie und ich beide verhungern, und außerdem würde mir die Decke auf den Kopf fallen. Ich war schon lange nicht mehr aus gewesen. Eigentlich seit Anna mit mir Schluß gemacht hatte nicht mehr. Und es wurde mal langsam Zeit, daß ich wieder die Nachtschicht oder das Schwimmbad unsicher machte. Mir war klar geworden: Ich brauchte einfach Hilfe. Ohne ging es einfach nicht. Annabella war schlimmer als ein kleines Kind.

Nachdem ich die Sauerei, die Annabella verursacht hatte, aufgewischt hatte, aßen wir unsere beiden Menues noch fertig, so gut es ging. Denn die Cola hatte einen Teil der Pommes Frites ungenießbar gemacht. Mir schmeckten sie nicht, und auch Annabella weigerte sich, sie zu essen. Wir brachen dann auf und fuhren mit der Straßenbahn wieder zurück. Zum Glück verlief die Fahrt diesmal ohne besondere Zwischenfälle. Ich dachte aber immer mehr nach, und ich fand immer weniger Gefallen daran, Annabella zu küssen. Auch der Gedanke an Sex mit ihr, der mich vor wenigen Stunden noch begeistert hatte, fing langsam an, mir ein schlechtes Gewissen zu bereiten. In den letzten Stunden war aus der Frau, die mich nur an Anna erinnert hatte, in meinen Augen ein kleines, hilfloses Mädchen geworden, das dabei war, die Welt für sich neu zu entdecken. Ich war dabei derjenige, der ihr helfen sollte, sich in dieser verrückten Welt zurechtzufinden. Das war meine Aufgabe und die Verantwortung, die ich übernommen hatte. Ich war ihr Vater, sie meine Tochter. Der Umstand, daß sie körperlich 20 Jahre alt war, änderte nichts daran. Daß sie Alex einen Zungenkuß geben wollte, zeigt schon, daß ich sie in der Erziehung fehlgeleitet hatte. Ich hatte sie als lebende Sexpuppe, die mich an meine Ex-Freundin erinnerte, züchten wollen, aber meine Gefühle änderten sich nun langsam. Ich mußte sie erziehen, ich mußte sie beschützen, und ich durfte nicht mit ihr schlafen. Nie wieder. Ein Vater schläft auch nicht mit seiner Tochter. Jedenfalls normalerweise nicht. Aber was ist in unserer Gesellschaft schon normal?

Als ich zu Hause angekommen war, zog ich Annabella und mir die schmutzigen Klamotten aus. Ich zog mir selber neue Klamotten an, hatte aber nicht den Nerv, Annabella neue Sachen anzuziehen. Ich hatte keine Frauenkleider, und nackt war Annabella sowieso schöner als in irgendwelchen Sachen von mir.

Ich rief Manuela an. Doch es meldete sich lediglich ihre Mitbewohnerin. "Die ist bei ihrem Freund", sagte sie.

"Dann gib mir die Nummer von ihrem Freund", entgegnete ich. "Es ist wichtig. Verdammt wichtig!"

"Ich dachte, du willst mit ihrem Freund nichts zu tun haben."

"Bitte, es ist ein Notfall!"

Sie gab mir seine Telefonnummer. Ich bedankte mich und legte auf. Dann wählte ich sofort die Nummer von Manuelas Freund. Er nahm sofort ab und meldete sich. Ich meldete mich auch und fragte gleich: "Ist Manuela bei dir?"

"Hey, wir haben lange nichts mehr voneinander gehört", meinte er. "Wie geht's dir denn?"

Er war schon ein recht netter und freundlicher Kerl. Ich mochte eben leider nicht. Wahrscheinlich lag es daran, daß er mir Manuela weggeschnappt hatte zu einem Zeitpunkt, zu dem ich noch in sie verliebt gewesen war.

"Es gibt große Probleme", antwortete ich. "Das hier ist ein Notfall. Sonst hätte ich niemals bei dir angerufen! Also, ist sie bei dir?"

"Einen Moment, ich hole sie."

Im Hintergrund erklang romantische Musik, wahrscheinlich von der Kuschelrock. Ich dachte wieder an die Zeit, in der ich mit Manuela zusammen gewesen war, und mein Herz blutete wieder. Ich hatte es immer noch nicht ganz überwunden, daß sie mit ihm glücklich geworden war, viel glücklicher, als sie es mit mir gewesen war. Überhaupt alle Frauen, mit denen ich je zusammen gewesen war oder etwas hatte, hatten nach mir einen Liebhaber gefunden, mit dem sie viel glücklicher gewesen waren. War es, weil sie mit mir durch die Hölle mußten? Ich weiß es nicht, aber es deprimiert mich sehr.

Manuela riß mich aus meinen Gedanken. "Hallo?"

"Ja, Manuela, ich bin´s. Ich habe ein gewaltiges Problem."

"Ein Problem mit deinem Klon?"

"Hört dein Freund eigentlich mit."

"Ja, ich habe vor ihm keine Geheimnisse."

"Er weiß doch nicht etwa von meinem Experiment?"

"Doch, er ist der einzige, der davon weiß."

"Wenn ihr euch alles erzählt und keine Geheimnisse voreinander habt, wie kommt es, daß ihr immer noch zusammen seid?"

"Tja, das ist eben wahre Liebe. Was wir beide niemals hatten, als wir zusammen waren."

"Jetzt hack nicht dauernd darauf rum. Nimm auf mich armen Single Rücksicht."

"Single? Ich dachte, du bist mit Annabella zusammen!"

Ich seufzte. "Ich weiß nicht. Ich konnte mit allen Frauen, mit denen ich bisher zusammen war, gut reden. Ich konnte mit dir gut reden und mit Anna auch. Aber mit Annabella kann ich überhaupt nicht reden. Es wird daraus eine richtige Vater-Tochter-Beziehung. Ich hatte heute Sex mit ihr, und wir haben uns mehrmals geküßt, ich meine richtig mit Zunge geküßt. Aber ich kriege langsam ein schlechtes Gewissen, wenn ich das tue. Ich meine, sie ist so hilflos. Sie ist diese Beziehung auch nicht aus freien Stücken eingegangen. Ich kann mit ihr machen, was sie will. Und das beunruhigt mich. Ich will Sex haben, und sie gibt sich mir hin. Das ist einfach unbefriedigend."

"Jeder Mensch träumt von einer glücklichen Liebe", meinte Manuela. "Und wenn wir glauben, den richtigen oder die richtige gefunden zu haben, und der oder die andere ist anderer Meinung und macht Schluß, erscheint uns das Leben sinnlos. So war es bei mir auch. Man wünscht sich dann den Menschen, den man so sehr geliebt hat und vielleicht immer noch liebt, zurück. Aber es ist nicht mehr der selbe Mensch, denn er wird einen Grund gehabt haben, warum er Schluß gemacht hat, und diesen Grund muß man akzeptieren. Wenn es in einer Beziehung nicht mehr so gut läuft, wenn man sie nur noch quält, dann muß man erkennen, was die Uhr geschlagen hat, und man muß Schluß machen. Es ist nur natürlich, daß du mit allen Mitteln versucht hast, Anna zurückzubekommen. Nur: Annabella ist nicht Anna. Annabella hat zwar den gleichen Körper, aber er ist nicht der Mensch, den du geliebt hast. Das mußt du einsehen."

"Ich sehe es ja ein", entgegnete ich.

Manuela seufzte. "Ich hätte dich niemals bei diesem hirnrissigen Experiment unterstützen dürfen. Was wir da ins Leben gesetzt haben, ist kein lebensfähiger Mensch. Jetzt mußt du viel Zeit mit ihr verbringen. Du mußt ihr zeigen, wie dieses Leben, diese Gesellschaft funktioniert. Du mußt ihr das Sprechen beibringen, das Lesen, das Schreiben und das Rechnen. Alles, wozu ein Kind über 18 Jahre Zeit hat, muß sie möglichst schnell lernen. Sonst werden deine Probleme niemals aufhören."

"Aber es wird unheimlich lange dauern", entgegnete ich. "Und ich kann sie keine Sekunde aus den Augen lassen." Dann erzählte ich ihr, was alles vorgefallen war, und fuhr fort: "Wir müssen eine Lösung finden."

"Wir? Du mußt eine Lösung finden. Ich habe mit der Sache nichts mehr zu tun."

"Das finde ich nicht fair. Du hast von Anfang an mitgemacht, und kurz vor Schluß, als es schon fast zu spät war, bist du ausgestiegen. Ich brauche mindestens noch einen Babysitter. Allein schaffe ich das nicht."

Ich beäugte Annabella, die gerade nackt auf dem Boden saß und an einem meiner Kugelschreiber herumkaute. Lange hielt ich das nicht mehr aus.

"Manuela, ich bin total pleite. Ich muß mir wieder einen Job suchen, aber Annabella kann ich zur Arbeit nicht mitnehmen. Und für eine Kinderkrippe oder einen Kindergarten sieht sie zu alt aus."

"Du wolltest doch unbedingt, daß Annas Klon bereits im geschlechtsfähigen Alter ist. Aber das ist eben nur körperlich möglich. Das hätte dir jeder sagen können."

"Manuela, bitte hilf mir. Ich kann mir keinen Babysitter für eine Zwanzigjährige holen. Da du die einzige bist, die darüber bescheid weißt, bist du auch die einzige, die dafür in Frage käme. Alle anderen würden mich für verrückt erklären. Ich brauche jemanden, der ihr die wichtigsten Dinge des Lebens beibringt und sie innerhalb kürzester Zeit so weit bringen kann, daß sie wenigstens die Abendschule besuchen und dort ihr Abitur machen kann."

"Da hast du dir aber viel vorgenommen", meinte Manuela. "Die Wissenschaft ist schon sehr weit fortgeschritten. Es ist jetzt möglich, Menschen zu klonen. Aber bestimmte Dinge werden für die Wissenschaft für immer unmöglich bleiben. Kein Wissenschaftler wird dir sagen können, wie du eine bestimmte Frau mit absoluter Sicherheit für dich gewinnen kannst. Und sollte mein Süßer mich irgendwann verlassen, wird mir kein Wissenschaftler sagen können, wie ich ihn zurückholen kann. Bestimmte Dinge sind einfach unmöglich. Du kannst einen Menschen zwar klonen, aber der Klon wird dann immer noch ein anderer Mensch sein, so wie ein eineiiger Zwilling. Du kannst einen Menschen nicht reproduzieren. Das wird man niemals können. Genausowenig kann der Mensch als Erwachsener geboren werden. Denn das Wesen, der Charakter eines Menschen, liegt nicht in den Genen. Er entwickelt sich langsam aus den Erfahrungen, die er während seines Lebens sammelt, aus den Normen und Werten, die er von seinen Eltern und Lehrern, aber auch von seinen Freunden vermittelt bekommt. Diese Erfahrungen fehlen Annabella, und deshalb verhält sie sich wie ein kleines Kind."

"Das weiß ich auch", knurrte ich. "Und Professor Eisenthal hat mir das auch schon gesagt. Ich habe mir niemals Illusionen darum gemacht. Nur: Ich habe es mir wirklich anders vorgestellt."

"Wie hast du dir das denn vorgestellt? Daß du eine lebende Sex-Puppe hast, die brav zu Hause sitzt und auf dich wartet, bis du nach Hause kommst und sie vögeln kannst? Die dir die Illusion gibt, noch mit Anna zusammen zu sein?"

"So ungefähr", gab ich zu. "Aber ich kann das nicht mehr. Sie sieht das, wie ich sie behandle, als normal an. Ich habe dir ja erzählt, wie sie sich von Alex verabschiedet hat."

"Eine Frage. Und du beantwortest sie mir bitte so ehrlich es geht. Liebst du sie?"

"Ja", antwortete ich. "Ich liebe sie sehr. Aber anders als ich je zuvor eine Frau geliebt habe. Ich liebe sie so wie ein Vater seine Tochter liebt."

"Dann darfst du nicht mehr mit ihr schlafen, denn das könnte ihr schaden. Und küssen darfst du sie auch nicht mehr. Sie wird zwar zunächst traurig sein, weil du sie abweist, aber sie darf sich nicht daran gewöhnen, sonst wird sie ein Leben lang das Bedürfnis danach empfinden. Aber du mußt trotzdem zärtlich mit ihr umgehen. Nimm sie in den Arm, streichel sie, so wie es der Vater mit einer Tochter macht. Wenn du sie wirklich liebst, wirst du es schaffen, aus ihr einen vollwertigen erwachsenen Menschen zu machen. Und du wirst es alleine schaffen. Trotzdem werde ich dir helfen. Ich kann nicht immer für dich und für Annabella da sein, aber ich glaube, sie braucht auch eine Mutter, und mein Freund und ich, wir werden uns um sie kümmern, wenn du gerade arbeiten bist oder aus anderen Gründen nicht kannst. Du mußt mir nur versprechen, daß du nie mehr mit ihr schläfst und daß du sie auch nie wieder auf die Art und Weise küßt, wie es nur Liebende tun. Such dir lieber eine neue Partnerin."

"Das werde ich tun", sagte ich. "Ich verspreche es."

"Gut, ich muß jetzt auflegen. Ich wünsche dir und deiner Tochter noch einen schönen Tag. Tschüß."

"Tschüß."

Ich legte auf und sah Annabella an. Sie war süß, aber jedes sexuelle Verlangen nach ihr war verschwunden. Ihre großen Augen waren die eines kleinen Kindes. Wie ein kleines Mädchen lächelte sie mich an. Und ich lächelte zurück.

"Nein, Annabella", sagte ich. "Ich werde nie wieder mit dir schlafen." Und sie plapperte. Es klang beinahe so, als würde sie "Annabella" sagen. Ich mußte lachen.


Kontakt: mail(at)matthias-franz(punkt)de
 
 

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